Immer wieder wird im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt die sogenannte Istanbul-Konvention erwähnt. Besonders Kanzleien, die auf kindschaftsrechtliche Verfahren spezialisiert sind und regelmäßig von häuslicher Gewalt betroffene Elternteile beraten, haben mit dieser Konvention zu tun.
Doch was genau ist diese Istanbul-Konvention und welche Bedeutung hat sie für von häuslicher Gewalt betroffene Elternteile?
Die Istanbul-Konvention, offiziell bekannt als Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, ist ein internationales Abkommen, das 2011 in Istanbul unterzeichnet wurde. Es trat 2014 in Kraft und stellt einen bedeutenden Meilenstein im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt dar. Wir fassen hier einmal die wichtigsten Punkte zusammen:
- Ziele: Die Konvention hat zum Ziel, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt in all ihren Formen zu verhindern, zu bekämpfen und zu beseitigen. Sie legt besonderen Wert auf den Schutz der Opfer und die strafrechtliche Verfolgung der Täter.
- Inhalte: Das Abkommen definiert verschiedene Formen von Gewalt, darunter physische, psychische, sexuelle und wirtschaftliche Gewalt. Es fordert die unterzeichnenden Staaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Formen der Gewalt zu verhindern, Opfer zu schützen und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
- Verpflichtungen der Staaten: Die unterzeichnenden Staaten müssen Gesetze und Maßnahmen einführen, die die Rechte der Opfer stärken und ihnen Zugang zu Unterstützung und Schutz bieten. Zudem sind präventive Maßnahmen, wie Aufklärungskampagnen und Schulungen für Fachkräfte, vorgesehen.
Bedeutung für Eltern in Trennung
- Schutz vor häuslicher Gewalt: Die Istanbul-Konvention ist besonders relevant für Trennungsfamilien, da es in solchen Phasen häufig zu eskalierenden Konflikten kommen kann. Die Konvention betont den Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt, was in Trennungs- und Scheidungssituationen eine entscheidende Rolle spielt.
- Rechtliche Rahmenbedingungen: In den Ländern, die die Konvention anerkannt haben, müssen entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um häusliche Gewalt zu verhindern und Betroffenen Schutz und Unterstützung zu bieten. Dies kann dazu führen, dass betroffene Elternteile und Kinder in Trennungssituationen besser geschützt und unterstützt werden.
- Unterstützungsangebote: Die Konvention fördert den Ausbau von Unterstützungsangeboten, wie etwa Notunterkünften, Beratungsstellen und speziellen Hilfsdiensten für Frauen und Kinder, die von Gewalt betroffen sind. Diese Angebote können für Eltern in Trennungssituationen eine wichtige Ressource sein.
Fazit
Die Istanbul-Konvention ist ein entscheidendes Instrument im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt und häusliche Gewalt. Für Eltern in Trennungssituationen bietet sie einen wichtigen Schutzrahmen und Zugang zu Unterstützung, um Gewalt zu verhindern und Betroffenen zu helfen. Es ist wichtig, sich der Rechte und Möglichkeiten bewusst zu sein, die durch die Konvention geschaffen wurden, um in schwierigen Trennungssituationen die nötige Sicherheit und Unterstützung zu erhalten.
Rechtsprechung zur Istanbul-Konvention
Diese Istanbul-Konvention hat auch das OLG Saarbrücken in seiner Entscheidung vom 17.04.2024 (6 UF 22/24) angewendet.
Kein Sorgerecht nach häuslicher Gewalt
Der Fall:
Die nicht verheirateten Eltern leben getrennt. Sie haben eine gemeinsame, 4-jährige Tochter. Der Vater hat die Vaterschaft anerkannt und ein gerichtlich vereinbartes regelmäßiges Umgangsrecht mit seiner Tochter.
Das Sorgerecht hat die Mutter allein und stimmt dem Antrag des Vaters auf das gemeinsame Sorgerecht auch nicht zu.
Als die im Umgangsverfahren vereinbarte Elternberatung scheitert, beantragt der Vater nunmehr das gemeinsame Sorgerecht.
Die Mutter erklärt in dem Verfahren, während der Beziehung gewaltsame Übergriffe des Vaters erlebt zu haben und sich deshalb in einer psychotherapeutischen Behandlung bei einer Psychotherapeutin zu befinden.
Die Übergaben zu den Umgängen begleitet daher auch nicht die sie, sondern ihre Eltern.
Und nicht nur die Mutter thematisiert die häusliche Gewalt, sondern auch der Vater, der einen Polizeibericht vorlegt, in dem es um gegenseitige Anzeigen wegen häuslicher Gewalt geht.
Das Amtsgericht entscheidet zugunsten des Vaters
Da der Vater im Gerichtstermin vor dem Amtsgericht eine umfassende Sorgerechtsvollmacht erteilt, wird seinem Antrag stattgegeben und elterliche Sorge auf beide Elternteile gemeinsam übertragen.
Entscheidungsgründe des OLG Saarbrücken
Auf die Beschwerde der Mutter erklärt das OLG, dass das Amtsgericht den Sachverhalt nicht ausreichend von Amts wegen aufgeklärt hat. Dem Antrag des Vaters auf ein gemeinsames Sorgerecht kann aus diesen Gründen nicht stattgegeben und der Beschluss des Amtsgerichts (AG) nicht aufrechterhalten bleiben.
Istanbul-Konvention muss berücksichtigt werden
Wenn, wie in diesem Fall, häusliche Gewalt vorliegt, muss Artikel 31 der sogenannten Istanbul-Konvention berücksichtigt werden. Nach dieser Konvention muss bei dem Vorliegen häuslicher Gewalt beachtet werden, „dass in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallende gewalttätige Vorfälle bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden (Abs. 1) und die Ausübung des Besuchs- und Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit des Opfers oder der Kinder gefährdet.“
Weiter erklärt das OLG: „Verhält sich ein Elternteil gegenüber dem anderen Elternteil aufgrund erlebter häuslicher Gewalt ablehnend, darf ihm dies insbesondere nicht als mangelnde Kooperationsbereitschaft ausgelegt werden.“
Verfahrensfehler des Amtsgerichts
Aus diesen Gründen handelt das AG dann verfahrensfehlerhaft, wenn es die gemeinsame elterliche Sorge herstellt, ohne die psychischen Auswirkungen einer gegen den Willen der von häuslicher Gewalt betroffenen Mutter hergestellten gemeinsamen Sorge zuverlässig aufzuklären. Die Mutter hat im gesamten Verfahren immer wieder die gemeinsame Sorge abgelehnt, weil der Vater sie ständig abwerte, oberlehrerhaft sei und versuche, sie zu dominieren. Sie hat immer wieder auf die gewaltsamen Übergriffe des Vaters hingewiesen, aufgrund derer sie schwer traumatisiert sei und sich in Behandlung befinde. Sie äußerte die Sorge, bei einem gemeinsamen Sorgerecht retraumatisiert zu werden, was sich negativ aufs Kind auswirken würde. Die Darstellung wurde durch eine Bescheinigung der Psychotherapeutin bestätigt.
Das AG hat jedoch erklärt, dass es die zurückliegenden Trennungsstreitigkeiten nicht aufklären könne und durch die Sorgerechtsvollmacht gewährleistet sei, dass die Mutter sich nicht mit dem Vater auseinandersetzen müsse.
Häusliche Gewalt kann gegen gemeinsames Sorgerecht sprechen
Das OLG sagt dazu: Wenn festgestellt werden kann, dass die Mutter Opfer häuslicher Gewalt wurde, dann kann dies unter Berücksichtigung der Istanbul-Konvention deutlich gegen die Begründung der gemeinsamen elterlichen Sorge sprechen, da das für die Mutter unzumutbar sein kann.
Das OLG erklärt weiter, dass „die gemeinsame elterliche Sorge nicht anzuordnen ist, wenn eine schwerwiegende und nachhaltige Störung auf der Kommunikationsebene der Eltern vorliegt, die befürchten lässt, dass den Eltern eine gemeinsame Entscheidungsfindung nicht möglich sein wird und das Kind folglich erheblich belastet würde, würde man die Eltern zwingen, die Sorge gemeinsam zu tragen. Die Frage, welche Sorgerechtsregelung vorzuziehen ist, ist dabei davon unabhängig, welcher Elternteil für die fehlende Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit (überwiegend) verantwortlich ist.“
Sorgerechtsvollmacht ist keine Lösung
Das AG darf daher auch mit Blick auf die vom Vater erteilte Sorgerechtsvollmacht von einer Klärung dieser Problematik nicht Abstand nehmen. Ist nämlich die gemeinsame elterliche Sorge der Mutter aufgrund der häuslichen Gewalt nicht zuzumuten, muss dies auch für die Sorgerechtsvollmacht gelten, die jederzeit von dem Vater widerrufen werden kann und in bestimmten Angelegenheiten trotzdem eine Kooperation der Eltern erforderlich macht.
Nach der Ausstrahlungswirkung von Art. 31 der Istanbul-Konvention kommt daher der Wahrung von Schutzbedürfnissen besonderes Gewicht für die gerichtliche Entscheidung zu. Danach kann der betroffene Elternteil in der Regel nicht zur einer „Restkooperation“ mit dem anderen Elternteil verpflichtet werden, sodass eine Sorgerechtsvollmacht eine Alleinsorge häufig nicht entbehrlich machen kann.
Fazit
Mit dem Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge wurde 2013 die elterliche Sorge auch nicht miteinander verheirateter Eltern neu geregelt. So soll nicht verheirateten Eltern die gemeinsame elterliche Sorge gemeinsam zustehen, wenn sie eine entsprechende Sorgeerklärung abgeben, heiraten oder wenn das Gericht ihnen die elterliche Sorge gemeinsam überträgt (§ 1626a BGB).
In der Vergangenheit ordneten die Familiengerichte die gemeinsame Sorge aber immer wieder auch nach erlittener häuslicher Gewalt an. Dafür wurde Deutschland mehrfach international kritisiert, weil durch diese Entscheidungen unter anderem gegen Artikel 31 der sogenannten Istanbul-Konvention verstoßen wird, die vor Gewalt schützen soll.
Doch die Rechtsprechung zeigt, dass es immer mehr Gerichte gibt, die die Istanbul-Konvention bei ihren Entscheidungen heranziehen, so auch das OLG Saarbrücken in der heute besprochenen Entscheidung.
Ein besonders wichtiger Bestand der Entscheidung des OLG ist, dass es dem Elternteil, der häusliche Gewalt erlitten hat, nicht negativ ausgelegt werden darf, wenn er sich aufgrund dieser erlebten häuslichen Gewalt gegenüber dem anderen Elternteil ablehnend verhält.
Das gilt auch für den weiteren Leitsatz des OLG, dass der gewaltbetroffene Elternteil in der Regel nicht zu einer „Restkooperation“ mit dem anderen Elternteil verpflichtet werden kann, sodass selbst eine ihm vom anderen Elternteil umfassend erteilte Sorgerechtsvollmacht eine Alleinsorge des betreuenden Elternteils häufig nicht entbehrlich machen wird.
©Karola Rosenberg