Wenn Eltern aufgrund mangelnder Erziehungsfähigkeit nicht in der Lage sind, ihr Kind zu betreuen, kann dies eine Kindeswohlgefährdung darstellen. Ein sofortiger Entzug des Sorgerechts ist jedoch nicht zwingend erforderlich, wenn die Eltern mit einer Unterbringung des Kindes bei der Großmutter einverstanden sind und dort keine Gefährdung besteht.
Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hat im Mai 2024 eine entsprechende Entscheidung getroffen.
Der Fall
Die Eltern einer fast dreijährigen Tochter sind nicht verheiratet, haben jedoch das gemeinsame Sorgerecht. Die Mutter leidet unter einer Borderline-Störung und steht unter gesetzlicher Betreuung. Sie hat bereits einen Sohn aus einer früheren Beziehung, der bei der Großmutter des Vaters lebt.
Nach der Geburt der Tochter zieht die Mutter zunächst in eine Mutter-Kind-Einrichtung, später lebt sie mit dem Vater des Kindes zusammen.
Sozialpädagogische Familienhilfe
Nach Hinweisen auf eine unzureichende Förderung des Kindes wird eine sozialpädagogische Familienhilfe installiert. Zwei Monate später berichtet der Träger der Hilfe, dass die Wohnung weiterhin unhygienisch sei und die instabile psychische Verfassung der Mutter eine Kindeswohlgefährdung darstelle. Einen Monat später nimmt die Großmutter des Vaters das Kind auf und gibt dafür sogar ihre berufliche Tätigkeit auf.
Inobhutnahme durch das Jugendamt
Ein weiterer Monat vergeht, dann nimmt das Jugendamt das Kind in Obhut. Begründet wird dies nicht mit einer Gefährdung im Haushalt der Großmutter, sondern mit schlechten hygienischen Verhältnissen in der elterlichen Wohnung, hohem Medienkonsum und mangelnder Förderung des Kindes. Das Jugendamt beantragt im Eilverfahren den Entzug des Sorgerechts.
Gerichtsverfahren und Einschätzung der Verfahrensbeiständin
Eine Verfahrensbeiständin wird bestellt und spricht sich gegen eine Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt aus. Aufgrund des panikhaften Verhaltens des Kindes gegenüber Männern empfiehlt sie, das Kind vorerst in einer Pflegefamilie zu belassen.
Die Eltern hingegen erklären, dass sie eine dauerhafte Unterbringung der Tochter bei der Großmutter väterlicherseits wünschen.
Entscheidung des Amtsgerichts
Das Amtsgericht entscheidet, dass das Kind zur Großmutter zurückkehren kann, da dort keine Kindeswohlgefährdung besteht.
Obwohl das Jugendamt ein Spannungsverhältnis zwischen Großmutter und Eltern sieht, sieht das Gericht hierin keinen ausreichenden Grund für eine Fremdunterbringung. Die Rückführung zur Großmutter sei für das Kind stabiler als ein weiterer Wechsel der Pflegefamilie.
Gutachten und Beschwerde des Jugendamts
Im Hauptsacheverfahren zeigt ein Gutachten zwar Auffälligkeiten beim Kind (passives Verhalten, Ängstlichkeit, verzögerte Sprachentwicklung), stellt jedoch keine Hinweise auf körperliche oder sexuelle Gewalt fest.
Das Jugendamt legt Beschwerde gegen die Entscheidung ein und argumentiert, dass das Kind bei der Großmutter aus sozialpädagogischer Sicht gefährdet sei, da sie nicht ausreichend mit den Behörden zusammenarbeite.
Die Eltern betonen erneut, dass keine Kindeswohlgefährdung im Haushalt der Großmutter besteht.
Entscheidung des OLG Frankfurt
Das OLG bestätigt die Entscheidung des Amtsgerichts: Die Betreuung des Kindes durch die Eltern würde eine konkrete Kindeswohlgefährdung darstellen, sodass eine Trennung erforderlich ist. Ein sofortiger Entzug des Sorgerechts sei jedoch nicht gerechtfertigt, da die Unterbringung bei der Großmutter die Gefahr abwende.
Das Gericht beruft sich dabei auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Ein milderes Mittel als eine Pflegefamilie ist vorrangig zu prüfen, wenn es das Kindeswohl gewährleistet. In diesem Fall ist die Unterbringung bei der Großmutter das mildere und geeignete Mittel.
Rechtliche Grundlagen
- 1666 BGB: Gerichtliche Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung
- 1666a BGB: Vorrang des mildesten Mittels
- 49 FamFG: Einstweilige Anordnung
Eine Trennung des Kindes von den Eltern ist nur zulässig, wenn die Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, abgewendet werden kann. Ein Sorgerechtsentzug ist nur dann gerechtfertigt, wenn keine milderen Maßnahmen ausreichen.
Fazit
Das OLG betont, dass die Unterbringung des Kindes bei seiner Großmutter grundsätzlich sogar besser geeignet sein kann, um eine spätere Wiederherstellung der elterlichen Familie zu ermöglichen.
Das Gericht sieht keine gravierenden Nachteile für das Kind in der Obhut der Großmutter, auch wenn Spannungen zwischen ihr und den Eltern bestehen. Diese Spannungen sind kein ausreichender Grund für eine Fremdunterbringung.
Die Entscheidung bestätigt somit: Solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist, sind familiennahe Lösungen einer Fremdunterbringung vorzuziehen. Ein sofortiger Entzug des Sorgerechts war in diesem Fall nicht erforderlich.
Entscheidung: OLG Frankfurt, Beschluss 27.05.2024, 6 UF 86/24
©Karola Rosenberg